Flüeli-Ranft Sachseln OW untere Ranftkapelle

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Das Votivbild
Beschreibung

Das monumentale Votivbild steht in der Tradition der gemalten Ex-Votos in katholischen Kirchen und Kapellen. Vordergründig schildert es in naiv-erzählender Art, wie die Schweiz im Ersten Weltkrieg dank der Fürbitte von Bruder Klaus verschont wurde.

Aus einem Meer von Schädeln und Skeletten, Verwüstung und Chaos, ragt die Friedensinsel Schweiz empor, eine ländliche Idylle mit Wasserfällen, Äckern, Weiden und tanzenden Kindern unter einem Apfelbaum. Sie wird von der Schweizer Armee bewacht und nimmt nach humanistischer Tradition Flüchtlinge auf. Oben kniet Bruder Klaus, der seine Arme fürbittend zum Antlitz Gottes ausstreckt (Glasgemälde von Albert Hinter im kleinen Rundfenster). Um die Bergspitze schweben Engel in den Farben der Trikolore als Hinweis darauf, dass die Schweiz auch dank Frankreich und der Entente gerettet wurde. Der grösste Engel wehrt mit seinem Schild, der mit Schweizerkreuz geziert ist, die vier apokalyptischen Reiter ab, die sich bedrohlich aus dem Totenheer emporschwingen (Off. 6, 1-8). Durch ihre Attribute verkörpern sie den Hunger (Waage), den Krieg (Schwert), die Grippepandemie (Pfeil und Bogen) und den Tod, der nicht als Reiter auf einem fahlen Pferd heransprengt, sondern als Skelett in Gestalt eines Flugzeugs zum Sturzflug auf die Friedensinsel ansetzt. Diese kühne Bildfindung Durrers verweist auf den Einsatz neuer technischer und chemischer Waffen, neben Flugzeugen und Torpedos auch Giftgas. Dem Reiter auf dem roten Pferd, der den Krieg symbolisiert, hat Durrer die Züge Kaiser Wilhelms II. verliehen, den er dadurch als Kriegstreiber brandmarkt. Er trägt zur mittelalterlichen Rüstung einen Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg. In Briefentwürfen legt Durrer als vehementer Vertreter moderner Demokratien dar, dass Monarchien und Militarismus ins Mittelalter gehörten und dem Untergang geweiht seien. Selbst ein Sieg Deutschlands wäre nie endgültig gewesen, weil dann die bolschewistische Weltrevolution nicht nur mit dem monarchischen Gottesgnadentum, sondern mit der ganzen alten Kultur aufgeräumt hätte. Wohl als Hinweis auf diese noch nicht gänzlich gebannte Gefahr versuchen die einzigen lebenden Menschen, die sich durch ihre rote Fahne als Bolschewisten ausweisen, am Schwanz des kaiserlichen Pferdes aus dem Chaos des Schlachtgetümmels emporzuziehen.

Die Globalität des Krieges wird durch zerfetzte Fahnen und Kopfbedeckungen der verschiedenen Armeen thematisiert. Skelette tragen die Kronen der untergegangenen Grossreiche der Habsburger, Preussen, Russen und Osmanen und verweisen auf den Zerfall der bis anhin gültigen Weltordnung. Jämmerlich gerupft und aufgespiesst ist der österreichisch-ungarische Doppeladler.

Doch auch die Idylle der Friedensinsel trügt. Durrer, ein unkonventioneller Zeitzeuge, sparte nicht mit Kritik an der scheinbar so heilen Welt und deckte die damaligen innenpolitischen Spannungen auf. Die Kritik an der Armee und ihrer ausgesprochen deutschfreundlichen Führung äussert sich in der nicht besonders vorteilhaften Darstellung von General Ulrich Wille, Generalstabchef Theophil Sprecher von Bernegg, Hauptmann Hans Georg Wirz, Professor für Schweizergeschichte, und der drei gemütlichen Landsturmsoldaten als Grenzschutz, was zu Protesten aus armeefreundlichen Kreisen führte. Mit dem jungen Offizier in „Phantasieuniform“, der keck im Rücken des Generalstabes auftritt, spielt Durrer auf eine der Auseinandersetzungen zwischen General Wille und dem Oberfeldarzt Carl Hauser an, der in einer seiner militärischen Sanitätsanstalten einen Zahnarzt beschäftigte, einen jungen Offizier, der mit seiner Phantasieuniform gegen militärische Vorschriften verstiess.

Auch hinter den harmlos-ländlichen Motiven verstecken sich Hinweise auf Lebensmittelknappheit und Hunger, auf den Mehranbau (pflügender Bauer) und die Rationierung der Milch (Melker), die zum Ärger der notleidenden Bevölkerung auch in die für den Export bestimmte Käseproduktion floss (Sennen, die Käseleiber eiligst wegtragen). Beim Älpler, der den Betruf nicht über seine Weiden, sondern über das Meer der Toten erschallen lässt, soll es sich um einen wortgewaltigen Prediger handeln, der in die falsche Richtung predigte, also im Sinne Durrers eine pointiert deutschfreundliche Haltung vertrat, möglicherweise um Adolf Bolliger oder Eduard Blocher. Der Hausbau soll eine Anspielung auf das Buch „Die neue Schweiz“ des sozialdemokratischen reformierten Theologen Leonhard Ragaz sein.

Sogar die Hilfsbereitschaft den Flüchtlingen gegenüber hinterfragt Durrer, wohlwissend, dass sie auch dem Überleben der darbenden Hotellerie zu dienen hatte. So empfängt ein händereibender Oberkellner die hochwillkommenen kriegsversehrten Internierten. Weit weniger beliebt war die nachdrängende Schar – eine „leichte“ Dame, Deserteure, Spione, Kriegsgewinnler, Wucherer mit prallen Taschen, Ostjuden. Den Schluss bildet eine weitere Gruppe von „gewöhnlichen“ zivilen Opfern – Alte, Kinder, die vertriebene Kaiserin Zita und ein Pazifist mit Friedenspalme. Das Motiv der Kinder, die fröhlich um einen Apfelbaum tanzen, verweist möglicherweise auf die Ideale des Völkerbundes, für den sich Durrer engagierte.

Verschiedene Motive – die von der Armee beschützte Friedensinsel, Flüchtlinge, „Käsebarone“, Lebensmittel- und Kohleknappheit, Prediger, Völkerbund etc. - finden sich auch auf zeitgenössischen Postkarten und Karikaturen.

Lage

Flüeli-Ranft. Innenseite der Rückwand in der unteren Ranftkapelle.

Gemeinde
Sachseln
Kanton
Obwalden

Datierung

1921.

Künstler

Entwurf: Robert Durrer (1867-1934, Stans, Historiker, Nidwaldner Staatsarchivar). Ausführung: Robert Durrer, Albert Hinter (1876-1957, Engelberg, Maler, Glasmaler) und Hans von Matt (1899-1985, Stans, Maler, Bildhauer). Schriftliche Quellen und mündliche Überlieferungen halten klar fest, dass Durrer, der in seiner Jugend auch für kurze Zeit an der Ecole des Beaux-Art in Genf studiert hatte, bei der Ausführung massgebend beteiligt war.

Auftraggeber

Schweizerischer Katholischer Volksverein. Er gelobte beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges, eine Weihegabe zu stiften, falls die Schweiz auf die Fürbitte von Bruder Klaus (Nikolaus von Flüe, 1417-1487) verschont bleibe. Damit sollte auch die Heiligsprechung des Eremiten und schweizerischen Nationalheiligen beschleunigt werden.

Restaurierungen

1985/86, Reinigung 2007.

Beschaffenheit

Fresko

Masse

Höhe ca. 3,50 m; Breite ca. 8,00 m

Inschriften

Auf dem gemalten Rahmen rund um das Wandbild: „Im August 1914, als der Weltkrieg Tod und Verderben brachte, habe wir Dich um Deine Fürbitte bei Gott angerufen. Lob und Dank Dir seliger Bruder Klaus. Unser liebes Vaterland blieb wunderbar behütet und verschont“. Unten die Signaturen, links: „Robert Durrer invenit 1921“ - rechts „Robert Durrer, Albert Hinter pinxit 1921“. Es fehlt Hans von Matt, der seinen Namen später übermalte.

Bemerkungen

Die Ranftkapelle ist frei zugänglich.

Literatur

Guy P. Marchal, Die Alpine Friedensinsel. Robert Durrers grosses Votivbild im Ranft und der schweizerische Alpenmythos. In: Körner, Martin; Walter, François (Hg.): Quand la Montagne aussi a une Histoire, Bern 1996, S. 409-426.

Christoph Mörgeli, Totentanz und heile Schweiz. Ein monumentales Fresko von 1921 im Flühli-Ranft. In: L'art macabre, Jahrbuch der Europäischen Totentanz-Vereinigung, Bd. 7, 2006, S. 107-122.

Regula Odermatt-Bürgi, „Unser liebes Vaterland, wundervoll behütet und verschont“. Robert Durrer und das Votivbild im Ranft, in: Nidwalden im Ersten Weltkrieg. Hg.: Historischer Verein Nidwalden. Beiträge zur Geschichte Nidwaldens, Heft 48, 2018, S. 156-169.

Jakob Wyrsch, Votivbild in der unteren Ranft-Kapelle, in: Nidwaldner Stubli, Beilage zum Nidwaldner Volksblatt, Nov. 1967, S. 3-4. (fast identisch in: Obwaldner Volksfreund, 1.9.1967, S. 2-3; siehe: dokumente.staatsarchiv.ow.ch/s-08-01).

Bilder

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Meer der Toten, Doppeladler und Gaseinsatz
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unten Flüchtlinge, oben Käsebarone
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Zug der Flüchtlinge 1
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Zug der Flüchtlinge 2
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Armee
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rechte Bildhälfte
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Untergang der Monarchien, rechts Signaturen
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Untergang der Monarchien, links der Schreiber mit Tintenfass und Feder.
Bildnachweis

Gesamtaufnahme: Daniel Reinhard, Sachseln. Detailaufnahmen: Regula Odermatt-Bürgi 2018.

Erfassung

Regula Odermatt-Bürgi, 2018.